Disintegration: Ein belangloser Genremix

Disintegration: Ein belangloser Genremix - Cover

Disintegration behandelt Zerfall der Menschheit

Weil die Menschheit von Klimakatastrophen, Überbevölkerung und Nahrungsmittelknappheit bedroht wird, wird ein Großteil der Menschen digitalisiert und ihre gespeicherten Persönlichkeiten in Roboterkörper übertragen. Nachdem sich der Planet aber wieder zu erholen beginnt, will eine militante Gruppierung ihre neuen Körper nicht aufgeben - nein sogar noch schlimmer – Sie wollen alle verbleibenden Menschen dazu zwingen, ihre menschlichen Körper aufzugeben, um sich zu „integrieren“. Disintegration behandelt also wortwörtlich den Zerfall der Menschheit und spinnt in seiner rund 10 Stunden langen Kampagne weiter, was uns möglicherweise in Zukunft erwarten könnte.

Aber wie verarbeitet Disintegration diese interessante Prämisse? Dafür muss ich etwas ausholen.

Die Beta-Version hat bereits aufgezeigt, wie viel Potenzial in dem Spiel steckt. Deshalb bin ich auch mit hohen Erwartungen an die Story herangegangen. Ich wurde restlos enttäuscht. Aber nicht, weil das Spiel schlecht ist, denn das ist es ganz und gar nicht. Es hätte nur so viel besser sein können.
Einer der Gründe, warum ich so optimistisch war, ist Marcus Lehto, einer der Erfinder von Halo. Dabei muss man den Entwicklern zugutehalten, dass sie einen wirklich gelungenen Mix aus Sci-Fi-Shooter und Echtzeitstrategie hinbekommen haben. Und ganz Lehtos Vita entsprechend hat das Team auch die Controller-Steuerung durchaus gelungen umgesetzt. Sie vermittelt euch jederzeit das Gefühl, die Kontrolle über das Kampfgeschehen zu behalten und wirkt auch nicht allzu fummelig. Selbst auf dem Gamepad. Ein durchaus gelungenes Fundament, auf dem nicht weiter aufgebaut wird.

Repetitives Missionsdesign

Warum das so ist, das liegt auch ein Stück weit am Missionsdesign. Die Kämpfe laufen immer nach demselben Schema ab. Ihr fliegt  beispielsweise mit eurem Gefährt, einem Gravcycle, immer so weit über dem Schlachtfeld, sodass ihr die Übersicht behaltet. Ein Gravecycle war früher als Lastentransporter gedacht, wurde dann aber zum Kriegsgefährt umfunktioniert. Eure Kameraden folgen dabei stets eurer Blickrichtung, sodass sie jederzeit in Gefechtsnähe sind. Mit ihren speziellen Fähigkeiten erleichtern sie euch die Kämpfe. So versorgt euch einer eurer Mitstreiter mit einem Verlangsamungsfeld, während ein anderer ein Mörserbombardement auf die Gegner herabregnen lassen kann. Und das alles auf euren Befehl. Im Prinzip also mechanische, kampferprobte Haustiere, die euch verfolgen, wohin ihr euch auch bewegt.

Sollte eines der Crew-Mitglieder während des Gefechts das Zeitliche segnen, müsst ihr mit eurem Gefährt lediglich darüber fliegen, um die Roboter gewordenen Menschen zu „rekonstruieren“, also wiederzubeleben. Denn normalerweise agieren eure Kameraden selbstständig und wissen sich zu verteidigen. Legen die Gegner aber Mienen aus, passiert es immer mal wieder, dass eure treuen Begleiter geradewegs hineinrennen.

Das Waffengefühl ist eher zweckdienlich, weil ein merklicher Rückstoß fehlt. Das mag vielleicht daran liegen, dass ein Roboter die Waffen abfeuert. So stört es die Immersion, weil eine großkalibrige Waffe nicht so leicht zu kontrollieren sein dürfte.

Nutzloser Hub

Zwischen euren Missionen landet ihr in einem mehr oder weniger offenen Hub. Die kalte und unpersönliche Umgebung passt zu den Robotern, die darin auf den nächsten Einsatz warten, bietet aber kaum Interaktionsmöglichkeiten. Der Hub ist absolut unnötig, weil sämtliche   Interaktionen auf ein Minimum beschränkt sind und das Spiel so gestreckt wird. Sprich: Er macht das Spiel nur schlechter. Ihr rennt oft nur eine Minute herum und nehmt bis zu drei Nebenmissionen für die kommende Mission an. Einen Vorteil oder gar erzählerischen Mehrwert gibt es dadurch nicht. Und man sollte die „Nebenmissionen“ eher Ziele nennen, die man während der Geschichte abschließen kann. Denn was als Mission angekündigt wird, ist entweder „schließe diese Mission in unter 30 Minuten ab“, oder „Töte einen Gegner, während er im Verlangsamungsfeld gefangen ist“. Ihr verpasst absolut nichts, wenn ihr diese Herausforderungen links liegen lasst. Denn diese sogenannten Missionen haben keinerlei Daseinsberechtigung.

Neben sinnlosen Spaziergängen könnt ihr in dem Hub auch Gespräche mit euren Crew-Mitgliedern führen. Erwartet aber keine hohe Charaktertiefe von euren Begleitern, oder dass sich diese euch sogar öffnen. Vielmehr stammen die Persönlichkeiten allesamt tief aus der Klischeekiste und bedienen diese in fast jeder Zwischensequenz.

Und apropos Interaktionsmöglichkeiten: Vor jeder Mission wird euch euer Ausrüstungsset automatisch zugeteilt. So ballert ihr euch abwechselnd mit einer Schrotflinte, Sniper oder Minigun durch die Level, habt aber nie eine Entscheidungsfreiheit, andere Waffen auszusuchen oder euch gar welche in den Level anzueignen. Absoluter Genre-Standard. So geht mögliche Abwechslung verloren. Ein weiterer Punkt, der die Immersion negativ beeinflusst.

Hübsche Optik und Zerstörungseffekte

Immerhin: Die Umgebung sieht ganz hübsch aus, genauso wie die Zerstörungseffekte, die es euch erlauben manche Deckungen der Gegner zu zerschießen. Aber auch hier: Was nützen Zerstörungseffekte, wenn sie lediglich Makulatur sind?

Mit den zerstörten Wracks in den Level haben die Entwickler versucht die Untergangsstimmung des Spiels einzufangen. Eine beklemmende oder gar beängstigende Wirkung hat sie aber nie. Das Leveldesign lädt auch nicht sonderlich zum Erkunden ein. Denn neben der Kämpfe und der immer ähnlich anmutenden Umgebung gibt es nur ein paar wenige Kisten mit Upgrade-Chips gibt, die ihr in vorgegebene Slots eurer Charaktere einbauen könnt. Ja, auch hier gibt es keine andere Wahl für euch.

Gameplay macht Laune

Die Schlachten sind noch das Beste an Disintegration. Gerade auf höherem Schwierigkeitsgrad fordern diese euer taktisches Verständnis und das kluge Befehligen eurer Truppe. Beispielsweise sollt ihr an einem Turm inmitten des Geschehens Kerne zerstören, die nur alle paar Minuten erscheinen. Während ihr die Kerne aber angreift, gebt ihr eine ideale Zielscheibe für eure Gegner ab. Unterdessen brechen endlos viele Gegnerwellen über euch herein, die ihr abzuwehren versucht. Einer der wenigen Momente an denen Disintegration den Spieler fordert, möglicherweise auch überfordert. Weil die Gegner unübersichtlich aus allen Richtungen attackierten und das Gefährt nur wenige Treffer einstecken kann, bevor es in Flammen aufgeht. Nichtsdestotrotz glänzt in Momenten wie diesen das Potenzial des Spiels auf, das es während der Kampagne viel zu selten abruft. Denn üblicherweise wird nur stupides Vorgehen verlangt mit wenig bis keiner taktischen Abwägung.

Enttäuschende Story

Doch worum geht es nun in der Story?
Jede Welt braucht einen Helden. Für die von Disintegration ist es der Hauptcharakter Romer. Er ist ein ehemaliger Gravcycle-Rennpilot, der mit mehreren Rebellen einen Widerstand gegen die gewaltbereite Gruppe formiert, die Menschen ihrer Rechte berauben möchte. Also einer der letzten, der die forcierte erzwungene „Integration“ der verbliebenen Menschen in Roboterkörper verhindern kann. Die als Outcasts bezeichneten Kämpfer unterstützen euch bei eurem   Vorhaben der Menschheit zu helfen.

Leider verpasst das Spiel, die Freiheit der letzten Menschen im Spiel   sowie deren Angst einzufangen und euch glaubwürdig zu präsentieren. Auch die zwingenden Themen Verlust und Verrat, die das Spiel selbst aufgreift, bleiben auf der Strecke. Stattdessen dürft ihr euch nur durch schlauchige Level kämpfen. Wieder. Und wieder. Und wieder. Und all das, ohne zu hinterfragen, warum ihr Roboter, in denen offensichtlich ja immer noch menschliche Persönlichkeiten stecken, ohne mit der Wimper zu zucken, in die Luft jagt.

Die bei einem Thema rund um Robotik und den menschlichen Körper wichtigste Frage: „Was macht uns menschlich“ wird völlig ausgespart. Sind es Emotionen, Wünsche, Sorgen und Ängste? Ich weiß es nicht. Und Disintegration offensichtlich auch nicht. Die Entwickler haben nicht einmal den Versuch unternommen, eine Erklärung zu finden. Warum ein so politisches Szenario, ohne sich mit den wichtigsten Fragen auseinanderzusetzen?

Dagegen bedient sich der ungewöhnliche Genremix plumper Witze und belangloser Dialoge.

Fazit

Was soll man jetzt von Disintegration halten? Es hat sich an etwas Großem versucht und sich dabei übernommen. Das ist furchtbar schade. Gerade die Prämisse verspricht mehr als das solide Gameplay halten kann. Immerhin gibt es in Disintegration Landungsschiffe wie in Halo, auch wenn diese unzerstörbar sind. So haben sie sich doch noch etwas von einem guten Spiel abgeguckt.