Videospielentwicklung während der Pandemie

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Hamburg, Montagmorgen: Ein melodisches Klingeln tönt aus den privaten Computerlautsprechern von Martin Wilkes, leitender Gamedesigner bei „Deadalic Entertainment“; einer von vielen Benachrichtigungstönen, die ihn heute erreichen werden. Der 46-Jährige arbeitet bei einem der renommiertesten Computerspiel-Studios Deutschlands. Er sitzt an seinem dunkelbraunen Kirschholz-Esstisch, den er zum Schreibtisch umfunktioniert hat. Es ist 8.30 Uhr. Gleicht beginnt der morgendliche „Round Table“. Dabei schalten sich die leitenden Verantwortlichen im Gamedesign, Leveldesign, der Programmierung und der visuellen Gestaltung zusammen, um den aktuellen Stand von „Der Herr der Ringe: Gollum“ abzugleichen. Deadalic arbeitet an einem neuen „3D-Action-Adventure“, das in der Branche auch als Blockbuster, ein sogenanntes Triple-A-Spiel, bekannt ist. „Und auf allen aktuellen Spielplattformen erhältlich sein wird“, ergänzt Wilkes.

Das virtuelle Treffen findet über die Plattform „Discord“ statt, eine Video- und Sprachkommunikationssoftware mit Chat- und Forenfunktion. „Was steht für heute auf dem Plan?“, fragt Wilkes in die Runde. Ein Kollege stellt die neuesten Änderungen am Projekt vor. Während der Video-Schalte ist immer wieder ein leises Rascheln zu hören, während Wilkes die wichtigsten Punkte analog auf seinem Block notiert. Das sei ihm lieber, als auf der Tastatur in einem Text-Dokument mitzuschrieben, meint er.

Sein Fazit: Aufgrund mehrerer Testdurchläufe soll eine Kletterpassage angepasst und ein Schleich-Abschnitt kniffliger gestaltet werden. „Als Nächstes wird mit den Autoren und Künstlern ‚Look und Feel‘ für das aktuelle Level abgestimmt“, erklärt Wilkes. Der Senior-Gamedesigner sorgt dafür, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter genau weiß, was heute zu tun ist, ehe Wilkes in das nächste Meeting geht. „Per Video – selbstverständlich“, sagt Wilkes und lacht.

„Video-Calls sind während der Pandemie der wichtigste Arbeitsbestandteil“, erklären die freiberuflichen Producer Ralf Adam und Vera Frisch von „Tigerteam Productions“ aus Regensburg. „Während wir früher durch Büros gelaufen sind und direkt auf Bildschirme gucken konnten, entsteht während der Pandemie ein erheblicher Reibungsverlust“, schildert Adam, der seit über 30 Jahren in der Spielebranche arbeitet.

Bei direkter Begegnung könne man sich unmittelbar über die Arbeit der Spieldesignerinnen und Spieldesigner unterhalten und auf Ziele einigen. Bei einer Online-Konferenz sei die Gefahr deutlich größer, dass Missverständnisse entstehen, so der Experte. „Wenn ein Artist die falschen Dateien bearbeitet, fällt mir das direkt auf, wenn ich durch das Büro gehe. Jetzt sehe ich das frühestens im Meeting am nächsten Tag.“ Adam stellt fest: „Gerade, wenn Menschen am visuellen Design oder an Übersetzungen arbeiten müssen, sind sie im Team vor Ort effektiver.“ Sowohl er, als auch Vera Frisch sind der Ansicht: Aufgrund der Pandemie liege die Produktivität in der Spielentwicklung nur noch bei etwa 80 Prozent.

Es gebe jedoch auch Bereiche, bei denen die Pandemie positive Effekte hatte, findet die 31-jährige Programmiererin Susanne Bertling vom Entwicklungsstudio Boxelware aus Erlangen. „Gerade als Programmiererin ist es im Homeoffice viel einfacher, ungestört am Programmcode zu arbeiten. Ich werde nicht aus der Arbeit gerissen.“ Zudem spare sie sich auch lange Wege mit Bus und Bahn zum Arbeitsplatz, um dort ebenfalls vor einem Bildschirm zu sitzen.

Was für Bertling ein großer Vorteil ist, macht ihr Kollege als großes Problem aus. Felix Schieber (28) leide nach eigenen Angaben sehr darunter, dass der Arbeitstag und das Privatleben so gut wie nicht mehr getrennt werden. Eine Gefahr, die auch Vera Frisch vom Tigerteam erlebt hat. „Gerade bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen führt der erste Weg am Morgen an den Computer. Abends geht es vom PC aus direkt ins Bett. Da verschwimmen die Grenzen. Deshalb sagen wir, dass die Balance gewahrt werden muss. Kollegen sollen ab halb neun Uhr abends keine Mails mehr beantworten.“ Das schade auf lange Frist nur der Gesundheit.

Eine ähnliche Situation hat auch Georg Baumgarte von „Wooga-Games“ erlebt. Der 37-jährige Product Manager aus Berlin arbeitet mit Menschen, die er zuvor noch nie getroffen hat, an einem Mobile-Game. Seine Kolleginnen und Kollegen stammen aus Russland, der Türkei und Indien. Letzte Woche habe er sich mit einem Spielentwickler dieser Gruppe zu einem Spaziergang verabredet: „Weil die Menschen dabei offener reden und ich so herausfinde, wie zufrieden sie mit ihrem Arbeitsumfeld sind. Wir haben am Ende des Spazierganges bei Minusgraden eine räudige Currywurst gegessen. Der Mitarbeiter war sichtlich ergriffen und hat gestanden, dies sei für ihn bislang der tollste Arbeitstag gewesen.“ Für Baumgarte ein Zeichen, wie wichtig soziale Kontakte im Berufsleben sind.

Für den leitenden Gamedesigner Martin Wilkes war die Umstellung auf Heimarbeit kein Problem. „Die Techniker haben bereits Mitte März 2020 an dem Serversystem für unser Team gearbeitet. Das funktioniert sogar besser als das in der Firma“, sagt Wilkes, obwohl während der Spielentwicklung regelmäßig bis zu 300 Gigabyte an Daten hin- und hergeschickt werden müssten. „Wir sind in der Games-Branche ja prädestiniert für Heimarbeit“, erklärt der Gamedesigner. Fast jeder, der in der Branche arbeite, habe schließlich einen rechenstarken Computer zu Hause. Damit der Fokus des Projektes nicht verloren geht, hält Ralf Adam es für extrem wichtig, dass jemand die Zügel in der Hand hält. „Was früher im Großraumbüro koordiniert wurde, muss während der Pandemie per Text-Nachrichten und Video-Calls kompensiert werden“, ergänzt er. Dabei spiele vor allem die Arbeitshierarchie eine wichtige Rolle. Denn jeder habe eine Meinung. „Aber Meinungen sind wie Arschlöcher - jeder hat eins“, sagt er. Ralf Adam fordert daher: „Alle müssen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Nur dann kann ein Games-Projekt effektiv vorangetrieben werden.“

Der Producer weiß aber auch: „Wir haben gerade bei internationalen Partnern bemerkt, dass ein Umdenken im Hinblick auf Großraumbüros stattgefunden hat.“ Teams hätten ihm gegenüber Interesse an einem effektiven Homeoffice bekundet. „Hey Ralf, kannst du uns helfen, eine Homeoffice-Infrastruktur aufzubauen?“, soll ein Kunde ihn gefragt haben. Und trotz der Vorteile, freut sich auch Martin Wilkes auf die Zeit, wenn er wieder durch die Büros schlendern kann. „Direkt zu sehen, woran die Kolleginnen und Kollegen arbeiten, das fehlt mir schon etwas“, räumt er ein. Er fordert, dass für alle, die mit der Heimarbeit besser klarkommen, diese Möglichkeit auch nach der Pandemie erhalten bleiben soll.